3 ДИАЛОГ С ЛИТЕРАТУРНЫМ ПРОИЗВЕДЕНИЕМ И СОВРЕМЕННЫЙ УРОК ИНОСТРАННОГО ЯЗЫКА. Методические материалы из опыта работы учителя иностранного языка гимназии № 12 Л. Н. Соколовой / ИТС учебно-методического центра управления образовательных учреждений администрации г. Липецка В данной брошюре публикуются методические материалы из опыта работы учителя немецкого языка гимназии № 12 Л. Н. Соколовой, посвященные работе с литературными произведениями на уроках иностранного языка. © ИТС УМЦ 2003 4 ДИАЛОГ С ЛИТЕРАТУРНЫМ ПРОИЗВЕДЕНИЕМ И СОВРЕМЕННЫЙ УРОК ИНОСТРАННОГО ЯЗЫКА Л.Н.Соколова, учитель гимназии № 12 Зачастую урок иностранного языка теряет свою эффективность из-за того, что применить свои знания, полученные в процессе овладения иностранным языком, ученик сможет только в далекой перспективе, в дальнейшей жизни. Для большинства учеников перспектива получения «награды» за усилия по овладению языком только в далеком будущем вряд ли может являться мотивом для этой, требующей не только временных затрат, но и часто волевых усилий, деятельности. Приблизить урок иностранного языка к реальным интересам учащихся позволяет использование лучших образцов художественных произведений на уроках иностранного языка. Литературные тексты отличаются от других видов текстов тем, что оставляют место для фантазии читателя. Особую ценность для учащихся, как в воспитательном, так и познавательном плане представляют поэтические тексты авторов стран изучаемого языка. С одной стороны, они отражают «другую» действительность, так как написаны представителями другого языка и другой культуры. С другой стороны, в центре литературных произведений стоят общечеловеческие этические и моральные проблемы. Поэтический мир представляет собой модель мира реального, но соотносится с ним сложным образом. «Литературное произведение – это диалектический механизм поиска истины, познания 5 окружающего нас мира и поиска своего места в этом мире» (Юрий Лотман «Анализ поэтического произведения»). Использование литературных произведений при обучении языку ведёт в конечном итоге к диалогу культур, так как дает ученикам возможность сравнить родную культуру и свою систему ценностей с культурой страны изучаемого языка, позволяя тем самым осмыслить (или переосмыслить) свою точку зрения и расширить кругозор. Таким образом урок иностранного языка способствует развитию индивидуальности и обогащению жизненного опыта учащихся. В центре урока стоит не учитель и не само литературное произведение, а ученик. Важно не произведение само по себе, а то, как воспринимает его читатель, какие мысли и чувства возникают у него при этом. «У произведения всегда два «автора»: один в традиционном смысле слова, который и написал это произведение и второй, который его читает, пропуская через себя» (Б. Каст). Деятельностный подход на уроках иностранного языка заключается в творческом подходе к литературному произведению. Ученики интерпретируют текст, опираясь на свой жизненный опыт, «включают» фантазию, они занимают активную позицию, т. е. размышляют, задают вопросы и ищут на них ответы, пишут продолжение или аналогичный текст от имени другого действующего лица. Все это делает обучение иностранному языку более увлекательным, творческим, радостным, уменьшает нагрузку на память за счет увеличения доли непроизвольного запоминания. 6 «При творческом подходе к литературному произведению ученики запоминают больше, чем слушая его интерпретацию из уст учителя» (Б. Каст). Это значит, что центром урока становится активный ученик, а главной частью урока – свободный обмен мнениями, дискуссия. Важно отметить, что диалог с литературным произведением предполагает определенный уровень владения языком и должен быть соответствующим образом подготовлен (снятие лексических, грамматических трудностей). При работе с литературным произведением можно выделить следующие шаги: 1) введение в тему/проблему и снятие трудностей (беседа, ассоциограммы, описание фотографии, карикатуры, комикса по проблеме текста); 2) презентация текста (сначала только заголовок или текст без заглавия, текст по частям или с пропущенными словами и т.д.); 3) работа над содержанием (предположения, гипотезы, постановка вопросов, дискуссия, анализ языковых средств); 4) раскрытие страноведческих компонентов содержания; 5) интеркультурный перенос (сравнение с родной культурой, личным жизненным опытом, поиск параллелей в родной литературе и т. д.). 7 DIALOG MIT EINEM LITERARISCHEN TEXT VORWORT Wie kann ich meinen Deutschunterricht interessanter gestalten um so die Schüler zum Sprachenlernen motivieren? Wie mache ich das Deutschlernen für sie nicht so kopflastig, sondern mehr lustbetont? Wie kann ich die Schüler zum kreativen Sprachgebrauch anregen und ermuntern? Wie kann ich das, was meine Schüler wirklich interessiert, worüber sie aber gewöhnlich nur außerhalb der Schule reden, in den Unterricht hereinholen? Wie überwinde ich die Spaltung zwischen Sсhule und Unterricht einerseits und der Wirklichkeit, dem realen Leben andererseits? Wer von den engagierten Deutschlerhren und Deuschlehrerinnen hat sich diese und viele ähnliche Fragen nicht schon selbst gestellt? Ich kann und will nicht behaupten, daß es ein Rezept für die Lösung dieser Fragen gibt, so eine Art Gebrauchsanleitung, gültig fär alle Fälle. Aber ich habe den Weg für mich gefunden. Meine Lösung ist eng mit der deutschen Literatur und der Beschäftigung mit ihr im Unterricht verbunden. Wenn Sie bereit sind, Ihr Planungsmonopol und Ihre zentrale Position im Unterricht zugunsten des freien Meinungsaustauschs und des starken Engagements Ihrer Sсhüler zu „opfern“, dann lade ich sie gerne ein, diesen Weg mit mir zusammen zu gehen. Es wird zwar nicht einfacher, аber viel interessanter und spannender. Man sagt: Der erste Schritt ist der schwerste. Und das stimmt auch. Aber lassen sie sich davon nicht abschrecken. Denn es heißt auch: Wer den ersten Schritt getan hat, bleibt selten dabei stehen. 8 Probieren sie es einfach aus! Viel Spaß! KLEINSTADTSONNTAG Wolf Biermann Gehn wir mal hin? Ja, wir gehn mal hin. Ist hier was los? Nein, es ist nichts los. Herr Ober, ein Bier! Leer ist es hier. Der Sommer ist kalt. Man wird auch alt. Bei Rose gabs Kalb. Jetzt isses schon halb. Jetzt gehn wir mal hin. Ja, wir gehn mal hin. Ist er schon drin? Er ist schon drin. Gehn wir mal rein? Na gehn wir mal rein. Siehst du heut fern? Ja, ich sehe heut fern. Spielen sie was? Ja, sie spielen was. Hast du noch Geld? Ja, ich hab noch Geld. Trinken wir ein’? Ja, einen klein’. Gehn wir mal hin? 9 Ja, gehn wir mal hin. Siehst du heut fern? Ja, ich seh heut fern. 1. Als Einstieg schlage ich vor, die Schüler nur mit dem Titel bekanntzumachen. Wie stellen sie sich einen Sonntag in einer Kleinstadt vor? Alle Einfälle der Schüler werden schriftlich festgehalten. Die Schüler können ihre Assoziationen auch begründen, Z. B. Langeweile: weil nichts passiert; Routine: weil es nichts Neues gibt; usw. 2. Dann hören die Schüler Gedicht. Wer spricht hier? Und mit wem? Ein Mann mit einer Frau? Zwei Freunde, die sich schon eine Ewigkeit kennen? Auf welche Art und Weise, mit welchen Mittel, vermittelt der Autor Routine? 3. Man fragt die Schüler nach Sätzen, die wiederholt werden. („Gehen wir mal hin“ oder „Siehst du heut fern?“) Was bewikt der Autor damit? Man merkt auch schnell, daß Fragen und Antworten immer gleich klingen (Gehn wir hin? – Ja, wir gehn mal hin!) Man kann auch an das Sprachgefühl der Schüler appellieren. Klang und Rhythmus beim Vorlesen können dazu beitragen, Bild- und Stimmungswelt des Gedichtes besser zu verstehen. Die Schlußzeile springt durch ihre besondere Form sofort ins Auge. Was meinen die Schüler dazu? Ist es nicht wie ein Ausatmen? 4. Das Gedicht lässt sich auch gut mit verteilten Rollen vorlesen/als Dialog vortragen. Wenn die Schüler dabei ihre Phantasie benutzen und eine Art Drehbuch zu diesem Gedicht entwerfen, wird es noch konkreter interessant: Wie sehen die Personen aus? Wie alt sind sie? Wo gehen sie hin? usw. 5. Es ist sicher auch interessant herauszufinden, was russische Schüler zu einer solchen Beschreibung des Kleinstadtsonntags sagen. 10 Gibt es so etwas auch bei uns? Hat das Gedicht etwas mit unserer Stadt zu tun? Wie urteilen die Schüler darüber? Was könnte man den beiden raten? Die Schüler können also das Gedicht auch auf die Situation in unserer Stadt, auf sich selber übertragen. Dabei können sie versuchen, das Gedicht durch eigene Vorschläge weiterzuentwickeln, fortzuschreiben. FRÜHZEIT Wolf Biermann Heute morgen, als ich noch wohling im Bett lag riß mich ein grober Klingler aus dem Schlaf. Wütend und barfuß lief ich zur Tür und öffnete meinem Sohn, der da Sonntag war sehr früh nach Milch gegangen war. Die Zufrühgekommenen sind nicht gern gesehn. Aber ihre Milch trinkt man dann. 1. Hier empfliehlt sich die Benutzung einer Folie. Man deckt außer dem ersten Satz alles ab. Der Autor vermittelt in diesen zwei Zeilen ein Bild. Wann könnte das geschehenen? Wie war dieser Klingler? Ist das Wort im Deutschen überhaupt gebräuchlich? Wie nennt der Autor den Störer? Warum? Wie würden die Schüler sich in einer ähnlichen Situation fühlen? Hier führen die Schüler Sachverhalte und Befindlichkeiten genauer aus. 11 2. Danach zeigt man die nächste Zeile. Interessant kann hier die Gegenüberstellung von „wütend und barfuß“ sein. Ihre Sinnfälligkeit springt sofort ins Auge: „barfuß” kann in diesem Kontext auch als „wehrlos“ verstanden werden. An dieser Stelle können die Schüler raten, wem wohl die Tür geöffnet wurde (wer vor der Tür stand und wozu er gekommen ist)? Erinnern wir uns daran, daß es Sonntag war. 3. Die letzten zwei Zeilen erschließen den Sinn des Gedichts. Wer kann mit dem Begriff „Zufrühgekommene“ gemeint sein? Es ist auch ratsam, Parallelen zu großen Persönlichkeiten der deutschen und russischen Kultur zu ziehen. Aber schon die Form des Gedichts ist den Schülern möglicherweise vertraut: der Aufbau ist typisch für eine Fabel. Man könnte auch fragen, was der Autor seinem Sohn wohl gesagt hat. 4. Zum Schluß könnte man die Schüler anregen, über sich selbst und ihre Umgebung nachzudenken: Gibt es auch unter ihnen Menschen, die man nicht versteht? Muß man nicht toleranter fremden Äußerungen und Meinungen gegenüber sein? POESIE Kurt Bartsch Die Männer im Elektrizitätswerk Zünden sich die Morgenzigarette an. Sie haben, während ich nachtsüber schrieb, Schwitzend meine Arbeitslampe gefüttert. Sie schippten Kohlen für ein Mondgedicht. Das ist zwar ein relativ kurzes Gedicht, aber es bietet eine gute Gelegenheit, sich Gedanken zu machen. 1. Ich beginne gewöhnlich mit der Überschrift: 12 Was verstehen die Schüler unter „Poesie“? Aber es ist auch ein anderer Einstieg denkbar: der Lehrer bringt ein Stück Kohle mit in die Klasse. Wenn er den Schülern das Kohlestück in die Hand gibt, merken sie, daß es die Hand schmutzig macht, also etwas Niedriges ist. Was kann man daraus machen? Und Poesie? Was ist Poesie? Bestimmt etwas geistig Hohes, Schönes, mit dem Alltagsleben wenig verbunden. Kohle und Poesie – sind das nur Kontraste? Ist das nur ein grundsätzlicher Unterschied oder gibt es etwas Gemeinsames? An dieser Stelle deute ich gewöhnlich auf die Überschrift und frage die Schüler nach ihren Vermutungen und Ewartungen. Wovon könnte die Rede in einem Gedicht sein, das einen solchen Titel trägt? 2. Dann wird der erste Satz präsentiert: was können die Schüler aus diesen zwei Zeilen entnehmen? Daß es Morgen ist. Die Arbeiter produzieren Elektrizität. Sie haben die ganze Nacht gearbeitet. Nun machen sie eine Pause. Und was hat das mit Poesie zu tun? Das Gedicht bringt die Schüler dazu, ihre Fantasie und ihre Kenntnisse von der Welt anzuwerden. 3. Dann wird die nächste Zeile präsentiert und das erste Wort aus der vierten Zeile (schwitzend). Jetzt wird das vom Gedicht vermittelte Bild deutlicher. Eine neue Person ist da, nämlich jemand, der schreibt. Aber was haben die Männer im Elektrizitätswerk gemacht? Und dazu noch „schwitzend“? 4. Die vierte Zeile kann die Schüler überraschen. Daß es sich um bildhafte Sprache handelt – daran zweifelt hier keiner. Wie ist diese Zeile zu verstehen? Wer wird hier eigentlich gefüttert? Tiere oder Kinder – ja, aber doch nicht leblose Dinge wie eine Arbeitslampe – oder? Was meinen die Schüler dazu? 13 Bedeutet das lediglich, daß die Arbeiter eben Strom für die Arbeitslampe erzeugt haben? Oder bedeutet es etwa mehr? Viel mehr als diese Tatsache? 5. Auch die letzte Zeile kann nochmals überraschen: Ein Mondgedicht – etwas Schönes, Romantiches, voll von Träumen und Gefühlen – soll aus Kohlen gemacht sein? Können die Schüler die Begriffe „Poesie“ und „Kohle“ jetzt gedanklich verbinden? Braucht man Kohle für ein schönes Gedicht? Könnte man die Arbeiter im Elektrizitätswerk auch als Koautoren des Mondgedichts bezeichnen? Wie entstehen Gedichte? Und woraus? 6. Man kann das Gedicht z. B. mit einem Gedicht von Anna Achmatowa vergleichen («Тайны ремесла», 1940). Haben beide Autoren die gleiche Auffassung? EINE LEICHENREDE Kurt Marti Ein neues Gesetz gebe ich euch: Keiner befiehlt! Ludwig Derleth Le vent se lève – il faut tenter de vivre. Pariser Mauerinschrifft, Mai 1986. als sie mit zwanzig ein kind erwartete wurde ihr heirat befohlen als sie geheiratet hatte wurde ihr verzicht auf alle studienpläne befohlen 14 als sie mit dreißig noch unternehmungslust zeigte wurde ihr dienst im Hause befohlen als sie mit vierzig noch einmal zu leben versuchte wurde ihr anstand und tugend befohlen als sie mit fünfzig verbraucht und enttäuscht war zog ihr mann zu einer jüngeren frau liebe gemeinde wir befehlen zu viel wir gehorchen zu viel wir leben zu wenig 1. Als Einsteig kann der Lehrer die Schüler fragen, ob sie in ihrem Alltagsleben mit Befehlen zu tun haben, und wo – in welchen Bereichen des Lebens. Was denken sie: wo ist es normal, daß einer dem anderen befiehlt? Und wo nicht? Warum ist das so? 2. Wenn sie eine Folie und einen Projektor haben, können Sie das Gedicht mit Lücken anstelle der Altersangaben und zunächst ohne die letzte Strophe präsentieren, am besten auch ohne Überschrift. Die Schüler lesen das Gedicht erst einmal still durch. Daß hier von einer Frau die Rede ist, ist offensichtlich. Wenn die Schüler die Lücken durch Altersangaben ersetzen, nähern sie sich dem Verständnis der Heldin. Sie verstehen, daß es sich um die Lebensbeschreibung einer Frau handelt. 15 3. 4. 5. 6. Woran erinnert diese Beschreibung? Ist das Gedicht nicht einem curriculum vitae (Lebensbeschreibung) ähnlich? Die Schüler können Vermutungen darüber anstellen, wie das Leben der Heldin war. Um das ganz deutlich zu machen, kann man das Gedicht verkürzen. Auch der Aufbau ist in dieser Hinsicht von großem Interesse: “als“-Sätze einerseits und „wurde befohlen“ andererseits. Hier können die Schüler Vermutungen äußern, wer hier eigentlich jeweils befohlen hat. Und wie versuchte die Frau, ihr Leben zu ändern? Welche Rolle haben dabei Eltern, Verwandte, Nachbarn ... gespielt? Was kennzeichnet die Heldin? Die Schüler listen die entsprechenden Adjektive auf. Sie werden auch feststellen, daß die fünfte Strophe anders gebaut ist. Die ins Auge stechende Dissonanz mit den ersten vier Strophen kann zu kritischen Reflexionen und Äußerungen führen. Warum wurde eigentlich diesmal nichts befohlen? Was halten die Schüler von dem Mann? Warum zog der zu einer jüngeren Frau? Diese Fragen eröffnen die Möglichkeit, über geschlechtsspezifische Rollenbilder zu sprechen – das Diskussiospotential des Gedichtes ist groß. Dann präsentiert man die letzte Strophe. An wen wendet sich der Autor? Die Schlußzeilen bringen einen darauf, das Gedicht als einen Appell, eine Mahnung, eine Predigt zu verstehen. Ganz zum Schluß biete ich die Überschrift dar, die die Schüler stark beeindruckt: Warum heißt das Gedicht so? Wo und wann hält man normalerweise eine Leichenrede? Wollte der Autor vielleicht die alten Rollenklischees beerdigen? Oder hielt er diese Rede womöglich wirklich am Grab einer Frau? 16 Diese Frage bleibt offen. 7. Man sollte aber auch den kulturellen Hintergrund nicht außer acht lassen. Trifft das Gedicht auf das heutige Deutschland zu? Auf die heutige Schweiz? Und auf das heutige Russland? Wann könnte das Gedicht entstanden sein? In den 60er, 70er oder 80er Jahren? Wie glaubwürdig finden die Schüler das Schicksal der Frau? Das Gedicht gewinnt um so mehr an Bedeutung für die Schüler, je mehr es ihre Aufmerksamkeit auf Sachverhalte lenkt, die oft verdrängt werden. 8. Für die Auseinandersetzung mit dem Thema „Rollenklischees” ist zu empfehlen, ein passendes Gedicht aus der russischen Literatur oder ein Lied auszusuchen, dem ein anderes Frauenbild zugrunde liegt. Besonders gut paßt meines Erachtens «Если женщина входит в твой дом» des russischen Liedermachers A. Dolskij. Da beide Gedichte und damit die ihnen zugrunde liegenden Frauenbilder vom Männern stammen, kann man sie gut vergleichen: Worin bestehen die Unterschiede? Kann man auch von verschiedenen Männerbildern sprechen? Oder nicht? HOFGESCHREI F. C. Delius Wo ist der Ball? Such sofort den Ball! Du sollst den Ball suchen! Such den Ball! Wenn du den Ball nicht hast, brauchst du gar nicht rauf zu kommen. Du sollst den Ball suchen! 17 hab ich dir gesagt. Da links in der Ecke. Wo ist der Ball? Komm ja nicht rauf ohne Ball! Sofort sollst du den Ball suchen! hab ich dir gesagt. Wenn du den Ball nicht suchst, brauchst du gar nicht rauf zu kommen. Du sollst sofort mit dem Ball raufkommen! hab ich dir gesagt. Wo ist der Ball? Such sofort den Ball! Du kriegst Dresche, wenn du ohne Ball rauf kommst! Komm sofort rauf! Du sollst den Ball suchen! hab ich dir gesagt! 1. Man könnte mit Abbildungen von Verbots-und Hinweisschildern anfangen. Damit werden erste Zugänge zum Gedicht geschaffen. (Ein Beispiel findet sich im Lehrbuch „Sichtwechsel“.) Wie verstehen die Schüler diese Verbote? Was dürfen Kinder nicht tun? Warum? Und wer will nicht, daß sie das tun? Welche Interessen könnten dabei bestimmte Mieter haben? Wie könnten die Personen aussehen, die diese Schilder ausgehängt haben? Die Schüler könnten nicht nur über Äußeres, sondern auch über Alter, Beruf oder Charaktereigenschaften der Personen spekulieren. Das bringt sie einem Verständnis der möglichen Motive näher. 2. Dann könnte man den Schülern folgende statistischen Angaben geben: Von 100 Deutschen fühlen sich 56 durch Kinderlärm 18 gestört. So führte ein Rentner aus Trier einen Prozeß, als ihm die Kinder auf dem Spielpatz bei seiner Wohnung zu laut waren. Der Richter ließ die Klage nicht zu (An dieser Stelle könnte man die Schüler Vermutungen darüber anstellen lassen, warum die Klage nicht zugelassen wurde): es sei normal, daß Kinder toben. Eine Umtrage, welche Eigenschaften bei Kindern besonders wünschenswert seien, ergab: (auch hier könnte man die Schüler zunächst Vermutungen äußern lassen) Gehorsam steht an erster, Frohsinn an letzter Stelle, denn Frohsinn von Kindern erreicht das Ohr der Erwachsenen. „Die Deutschen haben noch nicht verstanden, daß ihre Kinder ein Recht auf ein eigenes Leben haben.“ (S. Seegers) 3. Was können die Schüler mit dem Gedicht anfagen? Man könnte die Überschrift präsentieren zu weiterer Hypothesenbildung über den Inhalt. Umgekehrt wäre es auch sinnvoll, das Gedicht zunächst ohne Überschrift darzubieten und die Schüler dann selbst eine passende Überschrift finden zu lassen. Und es gibt natürlich noch weitere Möglichkeiten. Aus was für Sätzen besteht das Gedicht? – Befehle, Fragen (eigentlich nur aus einer Frage, die dreimal wiederholt wird), Drohungen. Welches Bild vermittelt das Gedicht? Wer schreit hier? An wen wendet sich der/die Schreiende? Was will er/sie damit erreichen? Wo befindet sich die Person, die schreit, wo die andere? Daß die erste Person eine Mutter ist, wird aus dem Kontext fast eindeuting klar. Die zweite Person ist ein Kind. Die Mutter will, daß das Kind den Ball findet und mit ihm nach Hause kommt. Wie versucht die Mutter, ihren Willen durchzusetzen? Das Gedicht läßt sich nach Aufforderungen und Drohungen ordnen: was das Kind tun soll und was passiert, wenn es nicht tut, was man von ihm fordert. 4. Wie bringt der Autor Ungeduld und Wut der Mutter zum Ausdruck? Man könnte die Schüler bitten, die Forderungen nach 19 dem Grad der Ungeduld der Mutter zu ordnen. Ein anderer Arbeitsauftrag wäre, das Strukturschema des Gedichtes aufzustellen, das so aussehen könnte: Frage Befehl Befehl Befehl Drohung Befehl Hinweis-Befehl Frage Drohung Befehl Drohung Befehl Frage Dabei ist ganz deutlich zu sehen, daß Befehl 1 dem Befehl (1) Befehl 2 widerspricht: soll das Kind den Ball Drohung suchen oder “sofort raufkommen”? – ein Befehl (2) „schönes“ Beispiel für Elternlogik. 5. Die Reaktionen des Kindes auf die Aufforderungen und Bedrohungen werden im Gedicht nicht thematisiert. Wie könnten sie sein? Man könnte für jede Frage der Mutter Antworten des Kindes formulieren lassen. Auf solche Weise läßt sich das Gedicht von zwei Schülern gut dramatisieren und inszenieren. Auf diesem Weg wird die Pointe der im Text dargestellten Erziehungsmethode klar – oder kennen die Schüler sie auch aus eigener Erfahrung? Das Gedicht wirkt wie aus dem Alltag genommen, so, als habe der Autor die Aussagen wirklich in einem Hof gehört. 6. Auch landeskundlich ist der Text interessant. Er stammt aus den 60er Jahren, also aus der Zeit der Protest- und Reformbewegung, unter anderem gegen eine zu autoritäre Erziehung, die durch Dressur zu angepaßtem Verhalten führt. Hier ist die historische 20 Parallele zur Nazizeit denkbar, ebenso wie zum Stalin-Regime in Rußland. Gehört dieses Verständnis von Erziehung schon der Vergangenheit an? Sind solche „Hofgeschreie“ heute nicht mehr zu hören? Was denken die Schüler dazu? Ein Zitat aus der Zeitschrift „Familie & Co”. 1/97: „Verblüffend: bis heute überstand die Disziplin als Erziehungsmittel auch Kaiserreich und Wirtschaftswunder, Welt- und kalte Kriege. Selbst die antiautoritäre Erziehung aus der Endzeit der 60er Jahre hatte ein nur kurzes Verfallsdatum.“ Und heute? „ ... Du mußt mehr essen „damit du groß und stark wirst.“ Oder “Du bist um Punkt neun im Bett, sonst ... “ – Jahrzehntealte Disziplin- und Standardsprüche feiern plötzlich wieder Urständ – auch in sehr vielen jungen Familien. Plötzlich verlangen selbst Eltern Disziplin die als Jugendliche selbst antiautoritär erzogen wurden. Wie kommt das? „Immer mehr Eltern haben über dem Streit um Sinn und Unsinn von Disziplin, Respekt oder Manieren und deren notwendiges Maß die Orientierung verloren – und greifen deshalb unbewußt auf Überliefertes zurück.“ „Sechs von 10 deutschen Kindern“, so eine ganz frische Umfrage, „müssen heute wieder ihre Teller leeressen, weil ihre Eltern es so wollen“. Leider ist das Thema des Gedichts auch heute aktuell. Um so größer ist das mögliche Diskussionspotential. 7. Zum Schluß könnte man den Schülern ein Zitat aus Goethes vor 199 Jahren geschriebenem Schauspiel „Hermann und Dorothea“ geben: Denn wir können die Kinder nach unserem Sinne nicht formen, so, wie Gott sie uns gab, so muß man sie haben und lieben, sie erziehen auf’s Beste und einen jeglichen lassen gewähren. Wie stellen sich die Schüler Erziehung ihrer eigenen Kinder einmal vor? So wie sie selbst erzogen wurden? Die Schüler könnten auch eine Umfrage durchführen, in der Eltern zu den am meisten erwünschten Eigenschaften ihrer 21 Kinder befragt werden. Es ist aber auch (und einfacher) möglich, Mitschüler dazu zu interviewen, ob sie ihre Kinder so erziehen würden, wie sie selbst erzogen wurden. VERGNÜGUNGEN Bertolt Brecht Der erste Blick aus dem Fenster am Morgen Das wiedergefundene alte Buch Begeisterte Gesichter Schnee Der Wechsel der Jahreszeiten Die Zeitung Der Hund Die Dialektik Duschen Schwimmen Alte Musik Bequeme Schuhe Begreifen Neue Musik Schreiben Pflanzen Reisen Singen Freundlich sein 1. Man könnte mit der Überschrift anfangen und sich darüber äußern, was man unter „Vergnügungen“ versteht. Gibt es etwas Allgemeingültiges, das sich mit diesem Begriff beschreiben läßt, oder sind Vergnügungen immer subjektiv? Was ist für die Schüler eine Vergnügung? Handelt es sich dabei in der Regel um Materielles, um etwas, was man kaufen kann? Oder nicht unbedingt? 22 2. Der einfache Wortschatz und Satzbau machen das Gedicht leicht zugänglich. Da es ohne Interpunktion verfaßt wurde, könnten die Schüler Interpunktionszeichen setzen und das so entstandene Gedicht mit entsprechender Intonation vortragen. Ein anderer Vorschlag: Jede Zeile wird durch eigene Erklärungen erweitert, durch eigene Vorstellungen erschlossen. Warum könnte z. B. „der erste Blick aus dem Fenster am Morgen“ so angenehm sein, daß Brecht ihn sogar als „Vergnügung“ bezeichnet? Oder „das wiedergefundene alte Buch“? Die Schüler suchen Erklärungen dafür in ihrem Lebens- und Erfahrunsbereich. Und die Tatsache, daß diese Erklärungen unterschiedlich sind, sollte uns heute selbstverständlich vorkommen. 3. Die Schlußzeile ist von besonderem Interesse, da sie Ungewöhnliches aussagt und den Leser damit erstaunt. Warum hält der Autor „freundlich sein“ für besonders wichtig, für eine Vergnügung? Ist „freundlich sein“ nicht etwas Angenehmes, ein Gefühl, das Wohlbefinden hervorrufen kann? Er hat entdeckt, daß das, wozu andere sich oft zwingen müssen und was deshalb im Alltagsleben oft fehlt, Vergnügungen bereiten, persönliches Wohlbefinden hervorrufen kann. Und was halten die Schüler vom „Freundlichsein“? Gibt es viele freundliche Menschen? Sind sie selber freundlich? Ist es leicht, freundlich zu sein? 4. Auch landeskundlich erscheint mir das Gedicht von Interesse zu sein: Ist es nicht erstaunlich, daß für den Autor materielle Vergnügungen keine besondere Rolle zu spielen scheinen? 5. Eine weitere Anregung: Die kulturelle Umgebung könnte einbezogen werden, wenn man die Schüler über Vergnügungen in der Perspektive unterschiedlicher Bevölkerungsschichten des heutigen Rußlands etwas schreiben oder wenigstens eine Stichwortliste aufstellen läßt. 6. Und ein abschließender Vorschlag: Die Schüler könnten versuchen, nach dem Vorbild des Gedichts eigene Gedichte 23 schreiben. Dabei überlegen sie sich, was für sie eine wirkliche Vergnügung ist. 24 25 26